Vor wenigen Jahren lag die deutsche Musikindustrie am Boden – jetzt hält sie sogar einer Pandemie stand. Nach Branchenangaben hat dies mit einem robusten Digitalmarkt zu tun – aber auch emotionale Gründe.
Deutschlands Musikindustrie trotzt der Corona-Krise: Große Erfolge im Streaming-Sektor und die offenkundig tröstliche Wirkung von Audiokonsum haben die früher so krisenanfällige Branche bisher recht unbeschadet durch die Pandemie gebracht. Für 2021 wird ein zweistelliges Umsatzwachstum erwartet, wie es sich bei den Halbjahreszahlen schon angedeutet hatte (plus 12,4 Prozent). „Wir gehen derzeit grundsätzlich davon aus, dass das sehr gute Wachstum im Streaming-Bereich weitergeht, dass Vinyl weiter seine Fans an sich bindet, und eventuell ist auch die CD nicht mehr so stark rückläufig – wobei das Weihnachtsgeschäft traditionell eine große Rolle spielt“, sagte der Vorstandschef des Bundesverbandes Musikindustrie (BVMI), Florian Drücke. „Dieses Umfeld könnte dann in der Tat zu einem guten Geschäftsjahr 2021 führen, für das die Branche auf ein zweistelliges Wachstum hoffen kann.“
Genaue Zahlen will der Dachverband, der nach eigenen Angaben die Interessen von rund 200 Tonträgerherstellern und Unternehmen mit mehr als 80 Prozent Anteil am deutschen Musikmarkt vertritt, im ersten Quartal 2022 bekanntgeben. Laut Jahresbilanz 2020 machte das Audiostreaming 63,4 Prozent des Gesamtmarkts in Deutschland aus, der CD-Absatz ging auf 21,6 Prozent zurück, dahinter folgten Vinylplatten (5,5 Prozent Anteil) und digitale Downloads (4,2 Prozent). Klar sei aber schon jetzt, dass es trotz Pandemie eine hohe Resilienz (Widerstandsfähigkeit) der Musiklabels „durch die Stärke des Digitalmarkts“ gebe, betonte Drücke. „Wäre das Ganze vor fünf bis zehn Jahren passiert, hätte es uns zerlegt, die Branche wäre in der damaligen Krisensituation im physischen Tonträgermarkt komplett ins Trudeln geraten.“
Der BVMI-Vorstand sagte, die Branche habe „seit Jahren ein sehr ordentliches Wachstum“ im Streaming-Bereich. „Entsprechend gab es am Anfang der Pandemie einen Moment der Irritation, weil plötzlich weniger Musik gehört wurde“, so Drücke. Die Erklärung war indes harmlos: „Der Weg zur Arbeit und zurück war für viele Menschen weggefallen. Das hat sich aber relativ schnell wieder normalisiert.“
Der Musikindustrie-Manager machte zugleich klar, dass 2im Live-Sektor und der Club-Szene eine unfassbare Betroffenheit herrscht. Da ist die Not sehr groß.“ Zudem sei in Lockdown-Zeiten „weniger Musik gespielt worden bei Friseuren, in Cafés, Restaurants und anderen Geschäften, was dann bei den Lizenzeinnahmen zu erheblichen Dellen geführt hat und noch führen wird“.
Weil echte Livemusik-Erlebnisse in der Corona-Krise monatelang wegfielen, haben sich die Fans woanders getröstet: Eine Studie des internationalen Branchen-Dachverbandes IFPI ergab, „dass Musik für die Leute einen heilsamen, einen emotionalen Effekt hat, der sie auch durch die Pandemie getragen hat“, wie Drücke erklärt. So seien digitale Musikangebote, etwa auch Livestreams, vielfach erstmals oder Schallplatten wieder entdeckt worden. „Das war insofern ein Effekt, der unsere Branche stabilisiert und in Teilen vielleicht sogar auch zum Wachstum beigetragen hat.“
Der aktuelle IFPI-Report „Engaging with Music 2021“ (43 000 Befragte von 16 bis 24 Jahren aus 21 Ländern) bestätigt diese Einschätzung: Der Musikkonsum nahm besonders in Deutschland erneut zu – von 19,1 Stunden pro Woche (2019) auf zuletzt 19,3 Stunden (weltweit: 18,4 Stunden). Quasi ein wacher Tag nur für Musik – dies entsprach laut IFPI-Berechnung 386 Songs im Dreiminuten-Format pro Woche. Die Nutzung von kostenpflichtigem Abonnement-Audiostreaming war dabei in jüngeren Bevölkerungsgruppen am höchsten – 16 bis 24 Jahre: 73 Prozent, 25 bis 34 Jahre: 68 Prozent. Insgesamt lag Deutschland beim Musikhören über Bezahl-Streaming weltweit auf Platz vier hinter Mexiko, Schweden und Brasilien. Für die Branche ebenfalls interessant: die in der IFPI-Studie offengelegte Positivwirkung von Musik. 85 Prozent der Befragten in Deutschland gaben an, dass Musik ihnen während der Corona-Pandemie „Freude und Glück bereitet“ habe. 76 Prozent berichteten, dass Musik in dieser Krisenzeit „zu ihrem emotionalen Wohlbefinden beigetragen“ habe – am häufigsten bei jungen Menschen von 16 bis 19 Jahren.
Livestream statt Konzert in echt: Knapp ein Fünftel der Befragten in Deutschland (19 Prozent) sahen sich auf diese Weise zuletzt Musik an. Und 57 Prozent stimmten zu, dass sie auch dann Musik-Livestreams ansehen würden, wenn echte Gigs vor Ort wieder möglich seien. Für 46 Prozent sind Livestreams eine „großartige Alternative“, weil sie Schwierigkeiten haben, Konzerte persönlich zu besuchen. Gleichwohl: Die gesamte Musikbranche drücke dem Live-Sektor für 2022 nun fest die Daumen, sagte der BVMI-Vorstandsvorsitzende. „Das ist nicht nur direkt und unmittelbar wichtig für die Künstlerinnen und Künstler, sondern das hätte in unserer Branche auch positive Rückwirkungen auf die Planbarkeit von Musik-Veröffentlichungen“, so Drücke.