Vor genau einer Woche, am Sonntag den 26. Februar 2023, endete mit dem obligatorischen Publikumstag die 73. Ausgabe der Internationalen Filmfestspiele Berlin.
Es war die erste Ausgabe nach der Corona-Pandemie, die ohne Auflagen und nach drei Jahren wieder mit voller Auslastung und Programm stattfinden konnte.
Endlich, dachten sich viele. Umso gespannter waren Besucher, Journalisten und Fachpublikum auf das Programm und die zu erwartenden Star-Gäste. Man musste sich fragen; wie hat die Berlinale die Pandemie überstanden. Hat sie an Bedeutung verloren, an Sponsoren, wie ist das allgemeine Interesse des „normalen Publikums“, sprich, wie werden die Ticketverkäufe anlaufen etc.
Und diese sprechen eine klare Sprache; 320.000 Tickets wurden an das Publikum verkauft. Damit knüpft man wieder an Zeiten vor Corona an. Auch die 20.000 Akkreditieren aus 132 Ländern, darunter 2800 Journalisten, zeigten das große Interesse an Deutschlands größten und bedeutendsten Filmfestival. Die Berlinale hat also nicht an Bedeutung und Strahlkraft durch zwei schwierige Pandemiejahre verloren.
Im Gegenteil, mir ist niemand begegnet der nicht froh war endlich wieder ein vollgepacktes Filmfestival ohne Einschränkungen erleben zu dürfen. Die Vorfreude war entsprechend groß.
Vielleicht auch die Erwartungen. Aber das Programm konnte sich sehen lassen. Zwar war der Wettbewerb sicher nicht der stärkste der Festivalgeschichte, aber ein paar positive Überraschungen gab es doch. Und auch was das internationale „Star-Aufgebot“ betrifft, brauchte sich die Berlinale dieses Jahr nicht zu verstecken. Mit Cate Blanchett, Sean Penn (mit der Doku „Superpower“ über den Krieg in der Ukraine bei der Berlinale), Matt Damon, Helen Mirren, Alexander Skarsgård, Willem Dafoe, Die Mitglieder der internationalen Jury Kristen Stewart und Golshifteh Farahani, Anne Hathaway, Marisa Tomei, Peter Dinklage, Jesse Eisenberg, Adrien Brody, John Malkovich, Geraldine Chaplin und natürlich Steven Spielberg, den die Berlinale mit dem Golden Ehrenbären für sein Lebenswerk ehrte.
Vor allem Spielberg hinterließ bei vielen einen bleibenden Eindruck. Unvergessen seine emotionale Dankesrede bei der abendlichen Verleihung am 21. Februar im Berlinale Palast. Oder die Pressekonferenz ein paar Stunden zuvor, als Spielberg über sein Schaffen als Filmemacher sprach und wie viel er von den jungen Filmemachern lernen würde. Spielberg hatte dabei so viel Lust am Austausch, dass er eigenmächtig die eigentlich für beendet erklärte Pressekonferenz fortsetzte, was natürlich im vollbesetzten Saal mit großen Applaus quittiert wurde.
Ein paar kleine und große Neuerungen gab es dieses Jahr auch zu vermelden. Zum einen die neuen Sponsoren Armani Beauty und Campari. Dank dem künstlerischen Leiter Carlo Chatrian mutmaßlich nicht ganz zufällig italienische Unternehmen.
Zum anderen wurde dieses Jahr zum ersten Mal in Kooperation mit dem US-Branchenblatt „Deadline“ der Berlinale Series Award verliehen. Der erste Award seiner Art geht an die italienische Serie „The Good Mothers“ von Elisa Amoruso. Die Serie beruht auf wahren Ereignissen und realen Personen. Die Handlung dreht sich um Frauen, die sich jahrzehntelanger Unterdrückung und Frauenfeindlichkeit widersetzten und sich gegen die übermächtige kalabrische Mafia auflehnen.
„The Good Mothers“ startet am 5. April 2023 bei Disney+.
In der Sektion Berlinale Series werden bereits seit ein paar Jahren Serienproduktionen auf der großen Leinwand gezeigt. Damit war die Berlinale Vorreiter bei den großen Filmfestivals und trägt dem nicht mehr ganz so neuen Sehverhalten des Publikums Rechnung, dass durch den enormen Aufschwung der Streamingdienste und entsprechenden Vielzahl an Produktionen für das heimische Heimkino sich verändert und zum Teil verlagert hat. Wie die Ticketverkäufe deutlich machen, zieht es die Menschen nach wie vor ins Kino. Sicher mit dem Bewusstsein, dass ein Filmfestival etwas besonderes ist und viele Produktionen man wahrscheinlich nur dort zu sehen bekommt.
Der (politische) Schwerpunkt der 73. Berlinale lag in diesem Jahr auf die Ukraine und dem Iran. Solidaritätsbekundungen auf dem Roten Teppich am Berlinale Palast, die Live-Video-Zuschaltung des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj beim Festivalauftakt und diverse Panels wie „Berlinale Talents“ unterstrichen die politische Bedeutung des Festivals. Und den Anspruch, dass die Berlinale wie eh und je denen eine Stimme geben will die sonst keine haben oder kaum gehört werden. Der berühmte Ansteckpin (Berliner Bär) war dieses Jahr entsprechend in die ukrainischen Landesfarben gelb-blau getaucht.
Natürlich gab es wie jedes Jahr rege Diskussionen über die oder den Bären-Gewinner. So gewinnt mit „Sur l’Adamant“ (On the Adamant) von Nicolas Philibert ein Dokumentarfilm, den kaum jemand auf dem Zettel hatte. Das sorgte für Verwunderung. Nicht weil es unverdient war, aber einige Wettbewerbsfilme stachen eben doch etwas mehr hervor. Dazu zählen etwa „20.000 especies de abejas“ (20,000 Species of Bees), „Bis ans Ende der Nacht“ (Till the End of the Night), „Disco Boy“, „Le grand chariot“ (The Plough), „Mal Viver“ (Bad Living), „Roter Himmel“ (Afire) und „Past Lives“.
Vor allem letzterer hat mich persönlich tief bewegt. Für mich war der sensibel erzählte Film der beste der diesjährigen Berlinale. Und bei Gesprächen mit anderen Kolleg*innen wurde schnell klar, dass ich damit nicht alleine da stehe.
Ein emotionaler Höhepunkt der Preisverleihung war zweifelsohne der Silberne Bär für die beste Schauspielerische Leistung in einer Hauptrolle an Sofía Otero (20.000 especies de abejas). Die erst Neunjährige spanische Nachwuchsschauspielerin ist die jüngste Preisträgerin der Festivalgeschichte. Sie selbst konnte es kaum glauben tatsächlich einen Bären als beste Darstellerin gewonnen zu haben, der ungläubige Blick sprach Bände. Die darauf folgende Dankesrede, bei der Sofía betonte wie lieb sie ihre Eltern und Geschwister habe, konnte niemanden kalt lassen. Tränen flossen nicht nur bei den Familienangehörigen. Auch so ein Moment den man nicht so schnell vergessen wird.
Ebenso eine Story, die so nur bei einem Filmfestival geschrieben wird, ist jene die ich ein paar Tage vorher erlebte.
Als ich mir gerade bei Speis und Trank in einer Mall in der Nähe des Berlinale Palastes eine kleine Pause vom aufregenden Festivalleben gönnte, kam plötzlich ein kleines Mädchen auf mich zu und fragte auf Englisch wo denn hier die Toiletten seien. Ich erklärte es ihr kurz, sie bedankt sich und unsere Wege trennten sich wieder mit einem Lächeln.
Wenig später kehrte das Mädchen mit ihren Eltern zurück und setzte sich zwei Tische neben mir. Das Mädchen machte, wie mir bereits bei unseren ersten Aufeinandertreffen auffiel, einen sehr lebhaften Eindruck. Als ich hinüber schaute dachte ich nur „was für ein tolles Mädchen“. Als ich sie so reden sah, obwohl ich nichts verstand, denn sie unterhielten sich unverkennbar auf spanisch, konnte ich mir erneut ein Lächeln nicht verkneifen. Die Mutter des Mädchen sah das, als uns kurz unsere Blicke trafen und lächelte zurück.
Wenige Tage später sah ich dieses Mädchen wieder. Schüchtern, Erstaunt, weinend und mit einem Silbernen Bären in der Hand. Selten habe ich mich mehr über eine*n Gewinner*in gefreut als für Sofía Otero. Sie werde ich definitiv so schnell nicht vergessen.
Diese Geschichten sind es, die ein Filmfestival so spannend und aufregend machen. Die Begegnungen mit unterschiedlichsten Menschen aus verschiedensten Ländern.
Ein wichtige Botschaft verkündigte der italienische Schauspiel-Superstar Pierfrancesco Favino auf der Pressekonferenz von „L’ultima notte di Amore“ (The Last Night of Amore).
Nachdem ich dem gesamten Filmteam eine allgemeine Frage zum aktuellen Zustand des italienischen Kinos stellte, nahm Favino die Situation zum Anlass um ein Statement zu verlesen, dass die Bedingungen für Filmschaffende und Schauspieler*innen in Italien anprangerte. Die Situation sei schwierig, da es kaum Sicherheiten gäbe und Zustände wie in Mexiko herrschten. Italien sei eben Italien. Er sprach Themen wie Mindestlohn, Verträge und vieles mehr an.
Pierfrancesco Favino ist Gründungsmitglied von U.N.I.T.A. (externer Link), ein Berufsverband, der von mehr als 100 Künstlern, Theater- und Filmschauspielern gegründet wurde, um die zentrale Stellung des Berufs der Schauspielerin und des Schauspielers im künstlerischen und kulturellen Panorama und in der sozialen Bildung jedes Einzelnen zu unterstützen und zu fördern.
Die Berlinale war auch in diesem Jahr wieder ein Filmfestival der wichtigen Botschaften. Eine große Bühne der Emotionen, des besonderen Kinoerlebnisses und von vielen kleinen und großen Stories auf und neben dem Festivalgelände. Egal aus welchem Land man kommt, in unseren Sorgen, Ängsten, Freuden und in unserer Begeisterung und Lebenslust sind wir alle uns sehr ähnlich. Die Welt da draußen ist sehr kompliziert und leider nicht immer so harmonisch und friedlich streitend wie ein Filmfestival. Aber diverse Filme aus aller Welt mit unterschiedlichsten Botschaften und Hoffnungen kommen in diesen zehn Tagen nach Berlin, um ein Publikum zu finden das sich den Zugang zu diesen Filmen manchmal selbst hart erkämpfen muss, manchmal aber getragen wird von eben diesen Hoffnungen oder auch harten Wirklichkeit am anderen Ende der Welt oder in direkter Nachbarschaft. All das gehört zur Berlinale, die es einem selten leicht macht.
In diesem (erneut) Krisengebeutelten Jahr hatte die Berlinale mit ihren vielen Besuchern den richtigen Ton gefunden. Zwischen manchmal kaum zu ertragenen Bildern aus der Ukraine, dem Iran oder anderswo, gibt es immer Hoffnung, die selbst der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj, dessen Land seit über einem Jahr unvermittelt den russischen Angriffskrieg bewundernswert standhält, vermitteln kann. Oder Iraner*innen die nach Berlin flüchteten und furchtbares im Iran erlebten, wie die Dokumentation „Sieben Winter in Teheran“ (Seven Winters in Tehran) (Perspektive Deutsches Kino) zeigt.
Auf der anderen Seite war die Hoffnung groß, die Berlinale findet zu alter Stärke. Das Publikum, die Fachbesucher, Journalisten, Stars und Filmemacher kommen wieder in die Stadt um das Kino zu feiern. Diese Hoffnung hat sich erfüllt. Und trotz großer Umbrüche ist das Kino alles andere als tot. Es muss sich nur, wie wir und die Welt, immer wieder neu erfinden.
In diesem Sinne bis zum nächsten Jahr. Und das nächste Filmfestival kommt mit Cannes bereits im Mai…
Copyright Fotos by Ron Junghans